Paul Krieger

Tex und Sprache

Utopia - als die Welt einmal fast erfroren wäre

Es war gegen Ende des Achtziger Jahrzehnts im März. Der Winter war gerade vorbei, jeder freute sich, dass nun die kalten Winterstürme nicht länger Schnee in die Augen stürmten. Die Sonne brach sich durch den strahlend blauen Himmel, doch halt, was war das? Es wurde nicht wärmer, und die Vögel blieben verschwunden. Die Menschen in allen Ländern der nördlichen Erdhalbkugel schauten besorgt auf ihre Thermometer, die Menschen der südlichen Erdhalbkugel blickten besorgt auf ihre Thermometer. Es wurde nicht wärmer - nein, von Tag zu Tag wurde es um ein Grad kälter. Man sorgte sich und führte mehr Öl ein, suchte mehr Öl und suchte Wege, die Kernkraft noch mehr zu nutzen, ohne sich selbst jedoch zu starker Gefährdung auszusetzen. Aber mit jedem Tag wurde es um ein Grad kälter, und der Bedarf an Energie wuchs, obwohl die Sonne nach wie vor stechend vom blauen Himmel herabstrahlte.

So herrschten im April überall auf der Erde gleichmäßige elf Grad Minus und die Felder und Straßen, die Häuser und Fenster waren von einer dicken Eisschicht überzogen, die im Sonnenlicht herrlich anzusehen war, wenn sich die Strahlen darin brachen. Aber die Bauern waren besorgt um ihre Saat, die Gärtner prüften besorgt in den Treibhäusern das Gemüse und installierten zusätzliches Licht. Es wurde stiller auf der Erde.

Am Montag endlich, dem 14.April, telefonierte der Präsident der Vereinigten Staaten aufs höchste beunruhigt mit dem russischen Staatsoberhaupt und als sie ihr Gespräch beendet hatten, läutete das russische Staatoberhaupt den chinesischen Parteivorsitzenden an und sprach besorgt mit diesem; man sorgte sich auf höchster Ebene um Energie und Schutz.

Am Mittwoch gab man über Funk und Fernsehen Arbeitsanleitungen für kälte-abweisende Kleidung heraus, die bis zu 50 Kältegrade ertragen ließ und die man schnell im Do-It-Yourself-Verfahren schneidern konnte, es käme ja weniger auf das Aussehen an. Unbürokratisch, sozial und ohne großen Schreibaufwand wurden auf den Sozialämtern Zahlungen zum Kauf des Materials an die Bedürftigen geleistet - man atmete erleichtert fürs erste auf.

Und auch auf höchster Ebene atmete man einmal auf, obwohl man wusste, dass man nur einen Aufschub erwirkt hatte, sollte das so weitergehen und es mit jedem Tag kälter werden.

In den Kirchen und Kathedralen, den Tempeln und Minaretten und Moscheen versammelten sich die Gläubigen und beteten zu ihren Göttern und baten diese, es möge endlich wieder warmer werden. Und endlich, weil derart hoffnungsvoll gebeten, setzten sich die Götter wieder einmal an den großen blauen Tisch und beratschlagten, was zu tun. Und kamen zu dem Schluss, hier wären sie wohl machtlos und man solle sich im Gebet versammeln, und so beteten sie gemein-sam zu ihren Göttern, es möge wieder wärmer werden.

Inzwischen packten auf der Erde die Bauern und die Arbeiter die Felder in schütz-ende blaue Folien ein, und jedes Land half dem verbündeten Nachbarn bereitwillig mit dem aus, woran es diesem mangelte.

Am Sonntag darauf trafen sich die Führer der westlichen Welt in Washington, die der östlichen Welt kamen in Moskau zusammen und die Chinesen beratschlagten mit ihren Freunden in Peking. Manch einer der Staatmänner kam dabei sogar mächtig ins Schwitzen, weil er zu Fuß oder zu Pferde, kam, um kluges politisches Denken und engagiertes Handeln zu demonstrieren.

"Sollen wir einzig auf unseren eigenen Vorteil bedacht sein und nur dem Bündnis-partner helfen?" fragte in Washington der deutsche Bundeskanzler die andächtig lauschenden Kollegen.

"Sollen wir wirklich unseren Pakt bekräftigen und gegenseitige Unterstützung geloben und allein unserem treuen Bündnispartner mit Energie aushelfen?" fragte der deutsche Staatsratsvorsitzende in Moskau seine andächtig zuhörenden Kollegen.

"Ist es nicht viel zu gefährlich heute, nur sich selbst zu helfen, nur der eigenen Seite? Ist das nicht viel zu gefährlich?" So äußerte sich der koreanische Parteivorsitzende in Peking. "Der Gegner besitzt doch die gleiche furchterregende Waffe wie wir und könnte uns aus Angst vernichten. Was hätte denn der zu verlieren, wenn er am Erfrieren ist? Das wäre doch töricht von uns, nur kurzsichtig an die eigenen Interessen zu denkent", meldete sich erregt in Washington der südkoreanische Staatschef zu Wort. "Vielleicht kann der Gegner sogar helfen. Wir wissen Dinge, die er nicht weiß. Er weiß Dinge, die wir nicht wissen. Folglich wüssten wir gemeinsam doppelt so viel. Wäre das nicht weitaus nützlicher in unserer gegenwärtigen Situation?" dachte der vietnamesische Parteivorstand laut in Moskau.

Die Nachrichten erreichten die ganze Welt und es brach Jubel aus. Frenetischer Beifall tobte wie ein Orkan über die ganze Erde hinweg und von all der Energie, die auf diese Art erzeugt wurde, wurde es sogleich spürbar um zwei Grad wärmer.

So geschah es, dass noch in dieser Sonntagnacht Delegationen von Ost nach West, von West nach Süd, von Süd nach Nord flogen. Und am Lauf des Montags, aufgrund der Zeitverschiebung hier um 13 Uhr, dort um Sieben, da um Vier Uhr nachmittags wurde die zentrale Computeranlage eines jeden Landes, in der all das Wissen der Nation gespeichert war, mit neuen Daten gefüttert. Sofort und mit frischem Mut begaben sich die Wissenschaftler an die Arbeit.  Die Computerfach-leute arbeiteten neue Programme für ihre Computer aus, so dass diese sich mit ihren ausländischen Kollegen verständigen konnten und in der Lage waren, ungehindert, voll kompatibel, ihre Programme auszutauschen; die Physiker prüften neue Modelle und neue Mechanik auf ihre Tauglichkeit; die Chemiker untersuchten neue Verbindungen; Biologen fahndeten in ihren 'Laboratorien nach neuen Organismen; und die Ärzte prüften die Kälteresistenz von Bindegeweben.

Ja, zwar fiel am Mittwoch die Temperatur wieder auf 21 Grad Minus, aber man spürte das kaum, denn man war erregt damit beschäftigt, erste Forschungs-ergebnisse auszutauschen. und am Freitag war es dann soweit: Stolz verkündeten um 11.57 Uhr Weltenzeit die Bildschirme allerortens, dass diese Generation beruhigt ihrer Zukunft entgegensehen könne, man habe Mittel und Wege gefunden, Wärme zu erzeugen. Ein ausreichend Maß an Wärme, denn von nun an sei man in der Lage, direkt von der Sonne zu fördern, und diese Energie reiche noch für viele Generationen aus. Und stolz verkündeten Biologen und Mediziner und Chemiker und Physiker, dass es ihnen im Wissenschaftsverbund gelungen sei, die Organismen auf der Erde kälteunempfindlicher zu machen, Pflanzen, Tiere und Menschen seien gerettet.

Als das die Menschen der Länder hörten, da traten sie schnell vor ihre Häuser und freuten sich und tanzten und lachten und feixten übermütig, und es wurde davon um sieben Grad wärmer.

Und da freuten sie sich noch mehr und sangen noch lauter und umarmten sich und küssten sich, und nocheinmal wurde es um acht Grad wärmer, so dass bereits die oberste Schicht der zugefrorenen Erdoberfläche auftaute, und Schlamm und Matsch die Kleidung der ausgelassen Tanzenden beschmutzten. Aber die Menschen scherten sich einen Dreck darum, und einer schlug vor, man solle doch ewig weiterfeiern, dann könne man selbst die benötigte Energie, die Wärme, schaffen. Aber da wurde er ausgelacht und gefragt, wer denn dann die Arbeit verrichten solle und die Felder bestellen und das Gemüse transportieren, nein, man könne wirklich nicht immer so feiern wie heute. Aber die Menschen lachten den Mann nicht höhnisch aus, sondern zeigten ihm ihre Liebe. Und er sah ihr Argument ein, und sie seine Idee, und sie nahmen sich gemeinsam vor, Maschinen zu ersinnen, die ihre Arbeit verrichten könnten, so dass sie sie selbst in der Lage wären, ihre kostbare Zeit zur Wärmegewinnung zu verwenden.

Ja, das war dieser denkwürdige Tag, an dem die Menschen erkannten, dass sie gemeinsam so stark waren, sie mussten nur zusammenhalten und sich nicht gegenseitig das Leben zur Hölle machen. Dieser denkwürdige Tag, an dem sie erkannten, dem Tod würden sie nie entrinnen, aber das sei nunmal die Natur, sei das Leben, ständiger Fluss, ein Zustand geht in einen anderen über, aber man könnte das Leben leben, verschönern könne man das Leben, gemeinsam und ohne Hast zu Ende leben, bis sich eines jeden Organismus auf natürliche Weise verbraucht hätte,  zu Staub, zu Erde zerfiel und neues Leben schuf. Und die Menschen begriffen den Sinn ihres Daseins und waren glücklich, für eine Weile hier zu sein.


Copyright 1979 Paul Krieger


 
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